Hinweis

Herr Dr. Reinhard Junker von der Studiengemeinschaft Wort und Wissen hat mir am 23. September 2002 kritische Hinweise zu diesem Artikel zugesandt. Im Text finden Sie Links, die zu seinen Anmerkungen und meiner Replik führen. Sie können diese Seite auch direkt aufrufen.

Kreationistische und evolutionistische Wahrscheinlichkeitsrechnung

Ich gehe davon aus, dass die Grundlage der Wahrscheinlichkeitsrechnung unstrittig ist: ein Ereignis ist so wahrscheinlich wie das Produkt aus den Einzelwahrscheinlichkeiten. Vielleicht ein Beispiel: die Wahrscheinlichkeit, dass ich mit einem Würfel eine 'Sechs' würfle, ist 1/6. Im Schnitt muss ich daher 6 Mal würfeln, bis ich eine 'Sechs' würfle. Die Wahrscheinlichkeit hingegen, das mit zwei Würfeln zu tun, ist demnach 1/6 * 1/6, also 1/36. Das heißt, ich muss im Schnitt 36 Mal würfeln, um einen Sechser-Pasch zu erhalten.

Im Zusammenhang mit Evolution kommen Kreationisten auf die einfallsreichsten Überlegungen, wie man mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung selbige widerlegen könnte.

Ein einfaches Beispiel: Insulin ist ein lebensnotwendiges Hormon für den Menschen. Es muss im Lauf der Evolution irgendwann mal entstanden sein. Wie wahrscheinlich ist das?

Das Eiweiß Insulin besteht aus 51 Aminosäuren. In Eiweißen kommen 20 verschiedene dieser Aminosäuren vor. Wenn man also Insulin als Kette aus einzelnen Aminosäuren bauen will, beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass im betreffenden Reaktionsschritt die richtige Aminosäure eingebaut wird, 1/20.

Für den Gesamtprozess folgt daher eine Wahrscheinlichkeit von

(1/20) * (1/20) ... * (1/20)

(wobei statt ... noch 48 Mal * (1/20) stehen muss).

Bei dieser Berechnung kommt eine Zahl heraus, die recht klein ist. Daraus schließt Kreationist dann messerscharf, dass es keine Evolution ohne planende Intelligenz gegeben haben kann, weil alle Atome im Weltall nicht ausreichten, genügend Material zum Probieren zu liefern.

Mathematisch mag diese Überlegung zwar korrekt sein, aber Mathematik ist halt nur eine Hilfe, mit der man Argumente durchspielen kann. Es kommt auch darauf an, die richtigen Werte einzusetzen.

Ich möchte das an einem Beispiel aus dem Alltag verdeutlichen. Ich sitze in der Kneipe und habe ein Glas Bier vor mir. Es steht an einer bestimmten Stelle vor mir auf dem Tisch, der Bierfilz liegt in einem bestimmten Winkel, das Bier steht ganz knapp über dem Eichstrich, die Schaumkrone hat eine interessante Form. Am Stiel sehe ich die Pilsblume, sie ist etwas nass geworden, die Enden klaffen auseinander. Auf das Bier habe ich genau 2 Minuten und 30 Sekunden gewartet.

Wie wahrscheinlich ist dieses Ereignis? [ Junker ]

Angenommen, es gibt 1000 Möglichkeiten, das Bier vor mir auf den Tisch zu stellen. Bei der Lage des Bierfilzes möchte ich 1000 verschiedene Winkel berücksichtigen. Es soll 1000 Möglichkeiten geben, die Höhe des Flüssigkeitsspiegels zu messen. Die Form der Schaumkrone ist sehr komplex, daher dürfte es mindestens 1000 verschiedene Typen geben. Das Auseinanderklaffen der Pilsblume kann auch auf mindestens 1000 verschiedene Arten erfolgen. Die Form der Benetzung ist auch komplex, auch hier gehe ich wieder von 1000 Möglichkeiten aus. Wenn ich eine genaue Stoppuhr verwende, gibt es sicher auch 1000 Möglichkeiten, wie lange es dauern kann, bis ich mein Bier habe.

Gut, also beträgt die (vorsichtig geschätzte) Wahrscheinlichkeit

(1/1000) * (1/1000) * (1/1000)* (1/1000)* (1/1000)* (1/1000)* (1/1000) = ?

Ich überlasse es dem Leser, sich diese Zahl auszurechnen. Wenn ich mein Argument verschärfen wollte, brauchte ich mir nur exaktere Messgeräte zu kaufen, dann könnte ich auf eine fast beliebig kleine Zahl kommen. Ich könnte dann, beispielsweise, 1 000 000 verschiedene Winkel für den Bierfilz messen.

Erfahrungsgemäß habe ich bis jetzt in der Kneipe so gut wie immer mein Bier bekommen. Was ist also an der Rechnerei falsch? Ganz einfach: mein Denkfehler war, dass ich berechnen wollte, wie wahrscheinlich es ist, ganz genau ein bestimmtes Glas Bier zu bekommen! Aber ich wollte ja nicht genau dieses Bier, mit genau dem Füllstand, mit genau der Blume, an genau der Stelle des Tischs, mit der exakten Ausrichtung des Bierfilzes, mit genau der klaffenden und benetzen Pilsblume, nach genau 2 Minuten und 30 Sekunden, sondern nur irgendein Bier. Und dann sieht die Berechnung der Wahrscheinlichkeit ganz anders aus, Beispielsweise:

Und schon merke ich, dass da, nicht nur mathematisch gesehen, Welten zwischen beiden Überlegungen liegen.

Zurück zur Natur! Kreationistisch argumentiert wird üblicherweise die Wahrscheinlichkeit 'berechnet', ein bestimmtes Molekül, das heute in Zellen vorkommt, abiotisch, durch Zufallsprozesse zu erzeugen. Sollte das nicht wahrscheinlich genug sein, wird daraus geschlossen, dass eine Evolution unmöglich sei.

Vom Standpunkt der Evolution aus gesehen muß nur realistisch gefordert werden können, dass abiotisch irgendwelche Moleküle entstanden sind, die bestimmte Eigenschaften aufwiesen. Welche speziellen Moleküle das waren, ob das heutige Leben diese noch verwendet und so weiter, sind vollkommen offene Fragen. [ Junker ] Es gibt selbstverständlich genügend Experimente, die beweisen, dass unter Bedingungen, die auf der frühen Erde geherrscht haben könnten, sehr komplexe Moleküle entstehen, die alle Eigenschaften aufweisen, die für eine Evolution benötigt werden. [ Junker ]

Meiner Meinung nach ist es äußerst unwahrscheinlich, hier irgendwelche Wahrscheinlichkeiten sinnvoll berechnen zu können. Man weiß ja weder, welche Moleküle damals entstanden, noch welche Bedingungen auf der Erde damals herrschten. Und noch problematischer: niemand weiß, wie die ersten 'Lebewesen' ausgesehen haben könnten, aus welchen Stoffen sie bestanden und so weiter. Es macht keinen Sinn, große Zahlenkolonnen aufzustellen, wenn man nicht weiß, ob die Werte, die man einsetzt, irgendeinen Sinn haben. [ Junker ]

Die ganzen derartigen Rechnereien der Kreationisten (übrigens auch vieler Evolutionisten) sind daher schlicht und ergreifend vertane Zeit.

Eine ganz andere Rechnerei, die immer wieder zu lesen ist, besteht darin, dass, wie oben dargestellt, so getan wird, als müsste eine bestimmte Struktur in einem Schritt erzeugt werden. [ Junker ]

Ein Beispiel soll dies veranschaulichen: Sie haben einen Topf mit je gleich vielen Kugeln jeder Sorte, auf denen je einer der Buchstaben 'E', 'V', 'O', 'L', 'U', 'T', 'I' und 'N' steht. Ihre Aufgabe ist nun, das Wort 'EVOLUTION' als Reihe von Kugeln mit der richtigen Aufschrift durch Ziehen von Kugeln aus dem Topf zu bilden.

Vergleichen Sie die beiden folgenden Vorgehensweise:

1. Sie greifen so oft in den Topf und nehmen jeweils nacheinander 9 Kugeln heraus, bis Sie 'EVOLUTION' in der Hand halten

2. Sie greifen in den Topf, nehmen jeweils eine Kugel heraus. Wenn diese 'passt', nehmen sie diese, wenn nicht, werfen Sie diese in den Topf zurück und holen eine andere.

Ich verzichte hier auf eine mathematische Untersuchung. Es sollte aber deutlich werden, dass der erste Weg nicht Erfolg versprechend ist. Er geht nur von Mutation in einem einzigen Schritt aus. Der zweite Weg ist der, der in der Natur verwirklicht ist: das Wechselspiel von Mutation und Selektion in einem schrittweisen Vorgang (nur am Rande sei vermerkt, dass die Selektion nicht wie in diesem Beispiel durch einen zielgerichteten Designer erfolgen muss). Auf dem Fehler, die Selektion zu vernachlässigen, beruhen so gut wie alle Berechnungen, die man in kreationistischen oder der Evolutionsforschung unkundigen Arbeiten findet. [ Junker ]


E-Mail an Thomas Waschke an Thomas Waschke Stand: 3. Februrar 2002