Ist Evolutionsbiologie eigentlich (natur)wissenschaftlich?

In diesem Bereich besteht in meinen Augen eine große begriffliche und inhaltliche Problematik. Eine umfassende Behandlung dieser Frage würde Bände füllen. Ich möchte hier lediglich zur Illustration der Problematik einige Zitate von Ernst Mayr kommentieren. Er schreibt im Vorwort zu seinem Buch 'Was ist Biologie':

Um möglichen Mißverständnissen - gerade auch in dieser übersetzten Version meines Buches - vorzubeugen, möchte ich an dieser SteIle kurz meinen Begriff von 'Wissenschaft' umreißen. Während man im angloamerikanischen Raum üblicherweise die sciences von den humanities trennt, ist im deutschen Sprachgebrauch und in der deutschen Literatur seit etwa 200 Jahren die Einteilung in Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften vorherrschend. Trotz der allgemeinen Vertrautheit dieses Sprachgebrauchs bin ich der Überzeugung, daß jene Einteilung irreführend und veraltet ist. Erstens sind manche Naturwissenschaften, wie etwa die Evolutionsbiologie, näher mit gewissen Geisteswissenschaften verwandt als mit der Physik, und zweitens folgen manche Geisteswissenschaften, wie die Geschichtswissenschaften, die Linguistik, viele Bereiche der Philologie und andere, streng den Regeln der Wissenschaft (während dies zum Beispiel für die Literaturkritik nicht gilt). Wenn daher in diesem Buch das Wort Wissenschaft gebraucht wird, betrifft es nicht nur die Naturwissenschaften, sondern alle Fachgebiete, welche die anerkannte wissenschaftliche Methodik anwenden. (Mayr 1998, Seite 12)

Mayr macht deutlich, dass 'science' im angloamerikanischen Sprachgebrauch nicht die Bedeutung des deutschen Wortes 'Wissenschaft' hat. Es bezeichnet dort konkret Naturwissenschaften. ReMine betont an einer Stelle seines Buchs:
 

Daher kann ein Forschungszweig 'non-scientific' sein, aber dennoch 'wissenschaftlich'. Mayr stellt klar, dass diese Einteilung eigentlich obsolet ist. Gerade die Biologie und innerhalb derselben vor allem die Evolutionsforschung ist im strengen Sinn gar nicht naturwissenschaftlich, sondern eben (auch) eine historische Wissenschaft. Selbstverständlich wendet sie die anerkannte wissenschaftliche Methodik an. Innerhalb der Evolutionsbiologie gibt es daher Bereiche (wie die Populationsgenetik), die den Standards problemlos genügen würden. Andere Bereiche jedoch, wie beispielsweise die Paläontologie, ist eigentlich eine historische Wissenschaft, die anstelle von Urkunden Fossilen erforscht. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, ausführlich darzulegen, was eigentlich 'anerkannte wissenschaftliche Methodik' ist. Man versteht darunter in etwa Beobachtungen, aus denen man Hypothesen ableitet, die man dann testet.

ReMine beispielsweise wirft der Evolutionsforschung vor, sie genüge nicht den üblichen wissenschaftstheoretischen Standards. Im Prinzip (wenn man die Physik als den Prototyp von Wissenschaft auffasst) ist das richtig, es ist aber zu fragen, ob diese 'üblichen Standards' auf die Biologie anwendbar sind. Mayr schreibt beispielsweise:

In den zwanziger und dreißiger Jahren entwickelte sich jedoch eine Disziplin, die später die Bezeichnung 'Wissenschaftsphilosophie' erhielt. In den fünfziger Jahren machte ich Bekanntschaft mit ihren Lehren und wurde wieder bitter enttäuscht. Dies war keine Wissenschaftsphilosophie, sondern eine Philosophie der Logik, der Mathematik und der physikalischen Wissenschaften (der 'exakten Naturwissenschaften'). Mit den Belangen der Biologie hatte sie fast gar nichts zu tun. Etwa zu dieser Zeit machte ich mich daran, aus Büchern und anderen Veröffentlichungen - einige davon hatte ich damals bereits selbst verfaßt - die wichtigsten Verallgemeinerungen der Evolutionsbiologie in einer Liste zusammenzufassen. Dabei stellte ich fest, daß die philosophische Literatur auf keine von ihnen in angemessener Weise einging; die meisten wurden nicht einmal erwähnt. (Mayr 1998, Seite 13f)

Mayrs Eindruck trügt nicht. Wenn man Lehrbücher der Wissenschaftstheorie (ich denke, dass Mayr diese Disziplin auch unter 'Wissenschaftsphilosophie' einordnen würde) zur Hand nimmt, wird man schnell feststellen, dass diese vor allem von Physikern oder gar Strukturwissenschaftlern verfasst wurden. Die Ergebnisse der Quantenmechanik, vor allem durch die damit verbundene Frage, was eigentlich Kausalität ist, führte sicher dazu, dass sich vor allem Physiker näher damit befassten, was wir eigentlich über die Natur wissen können. Sicherlich führte auch der Anspruch an Formalisierung, Reproduzierbarkeit und Vorhersagemöglichkeit dazu, dass Standards geschaffen wurden, die sich an der Physik, eben dem Gebiet, in dem die Autoren dieser Werke ausgebildet wurden, orientierten. Diese lassen sich auf biologische Systeme jedoch nur schlecht anwenden. Im Gegensatz zu physikalischen spielt bei biologischen Systemen die Geschichte stets eine entscheidende Rolle. Die damit verbundenen Kontingenzen machen Vorhersagen praktisch unmöglich. Es ist beispielsweise nicht möglich, das Quartär ohne einen vorhergegangenen Meteoriten-Einschlag, der die Dinosaurier ausradierte, ablaufen zu lassen, um nachzuprüfen, ob die Säugetiere auch dann noch die dominierende Lebensform (inclusive unserer Gattung) auf diesem Planeten hervorgebracht hätten.

Das bringt Mayr sehr deutlich im folgenden Zitat zum Ausdruck:

Mir wurde immer deutlicher, daß sich die Biologie als Wissenschaft erheblich von den physikalischen Wissenschaften abhob; ihr Gegenstand, ihre Geschichte, ihre Methoden und ihre Philosophie waren grundlegend anders. Zwar sind alle biologischen Vorgänge mit den Gesetzen der Physik und Chemie vereinbar, aber lebende Organismen ließen sich nicht auf diese physikochemischen Gesetze reduzieren, und die physikalischen Wissenschaften gingen auf viele Aspekte der Natur nicht ein, die allein auf die belebte Welt beschränkt sind. Die klassischen physikalischen Wissenschaften, auf denen die klassische Wissenschaftsphilosophie gründete, waren von Vorstellungen dominiert, die für die Erforschung von Organismen ungeeignet waren, wie etwa Essentialismus, Determinismus, Universalismus und Reduktionismus. Die Biologie, richtig verstanden, umfaßt Populationsdenken, Wahrscheinlichkeit, Zufall, Pluralismus, Emergenz und historische Darstellungen. Es bedurfte einer neuen Wissenschaftsphilosophie, welche die Ansätze aller Wissenschaften, auch der Physik und Biologie, in sich vereinen konnte. (Mayr 1998, S. 17)

Es sollte deutlich geworden sein, dass Vorwürfe wie 'die Evolution ist nicht naturwissenschaftlich' zwar eine gewisse Berechtigung haben, aber eben nur, wenn man die Standards, die für die Physik gelten, anwendet. Vollkommen ungeklärt ist allerdings die Frage, ob das sinnvoll ist. Mayr hat sich zwar an einer Philosophie der Naturwissenschaften versucht, seinen Sammelband aber sinnvollerweise 'Toward a New Philosphy of Biology' (deutsch: Eine neue Philosophie der Biologie') genannt, weil er über erste Ansätze nicht hinauskam. Leider wird er diese Ansätze nicht mehr allzu lange weiterführen können, da er schon weit in den 90ern ist (geb. 1904).

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Mayrs Einschätzung von Kuhn, auf den sich ReMine mehrfach bezieht:

Die Biologie wird auch von vielen mißverstanden, die sich an der Entwicklung einer Geschichte der Wissenschaft versuchten. Als im Jahre 1962 Thomas Kuhns Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (deutsch l976) erschien, war es mir ein Rätsel, weshalb dieses Werk wohl solches Aufsehen erregte. Kuhn hatte zwar einige der am wenigsten realistischen Thesen der traditionellen Wissenschaftsphilosophie widerlegt und die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung historischer Umstände gelenkt, doch was er als Ersatz anbot, erschien mir ebenso unrealistisch. Wo gab es in der Geschichte der Biologie die tiefgreifenden Revolutionen und wo die langen Phasen normaler Wissenschaft, wie sie Kuhn in seiner Theorie postulierte? Nach meinen Kenntnissen der Geschichte der Biologie gab es sie nicht. Zweifellos war Darwins Die Entstehung der Arten aus dem Jahre 1859 revolutionär, aber Ideen von Evolution lagen schon seit einem Jahrhundert in der Luft. Außerdem wurde Darwins Theorie der natürlichen Selektion, der entscheidende Mechanismus der evolutionären Anpassung, erst annähernd ein Jahrhundert nach ihrer Veröffentlichung voll anerkannt. In diesem gesamten Zeitraum fanden kleinere Revolutionen statt, eine Phase der 'normalen' Wissenschaft aber gab es niemals. Kuhns These mag für die Physik gültig gewesen sein, auf die Biologie traf sie nicht zu. Historiker, die von der Physik her kamen, schienen nicht erfassen zu können, was in über drei Jahrhunderten in der Erforschung der lebenden Organismen vor sich gegangen war. (Mayr 1998, Seite 16)

Mayr hat vermutlich auch aus dem Grund recht, weil sich wohl keine andere Naturwissenschaft mit einem derartig umfassenden Gebiet beschäftigt wie die Physik. Daher ist die Physik wesentlich 'einheitlicher'. Eine Erkenntnis beispielsweise in der Elementarteilchenphysik, führt dazu, dass die gesamte Physik einschließlich aller Wissenschaften, die sich auf sie beziehen, davon betroffen wird. Die Diskussion innerhalb der Evolutionswissenschaft, ob sich neue Arten graduierlich oder sprunghaft gebildet haben, mag hochinteressant sein, wird aber einen Ethologen oder Neurowissenschaftler vermutlich nicht beeindrucken. Auf der anderen Seite gelten auch Methoden nicht für das gesamte Gebiet. Evolutionsforschung wendet beispielsweise historische Methoden an, die in der Neurophysiologie keinen Sinn machen würden.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Evolutionsforschung im Rahmen der Biologie eine echte Wissenschaft ist, aber eigene Standards hat. Es macht keinen Sinn, sie an der Messlatte der Physik zu messen, bevor nicht geklärt ist, dass selbige auch für die Biologie gilt. Hier wird ein Strohmann aufgebaut, auf den man wacker eindreschen kann.

Literaturliste:

Kuhn, Thomas S. 'The Structure of Scientific Revolutions' 1962 Chicago, Chicago University Press (deutsch: 'Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen' 1976 Frankfurt / Main, Suhrkamp) [ zurück ]

Mayr, Ernst 'Toward a New Philosphy of Biology' 1988 Cambridge; London, Belknap (deutsch: 'Eine neue Philosophie der Biologie' 1991 München, Piper) [ zurück ]

Mayr, Ernst 'Das ist Biologie. Die Wissenschaft des Lebens' 1998 Heidelberg; Berlin, Spektrum (Original: 'This is Biology' Cambridge; London, Belknap) [ zurück ]

ReMine, Walter J. 'The Biotic Message. Evolution versus Message Theory' 1993 St. Paul, St. Paul Science [ zurück ]


E-Mail an Thomas Waschke an Thomas Waschke Stand: 10. August 2000