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Nachruf auf:

Stephen Jay Gould, 1941-2002,

Paläobiologe, Evolutionstheoretiker und Anti-Kreationist

Am Montag, den 20. Mai 2002 verstarb der renommierte amerikanische Evolutionsforscher und Harvard-Professor Dr. S. J. Gould im Alter von 60 Jahren in Manhatten an Lungenkrebs. Die Krankheit wurde bereits 1982 diagnostiziert.
Wie kaum ein anderer Wissenschaftler hat der Verstorbene zwei scheinbar kaum miteinander zu vereinbarende Eigenschaften in einer Person verkörpert: Exzellenter Wissenschaftler zu sein und gleichzeitig, als Essayist, in allgemein verständlicher Sprache in populären Artikeln und Büchern die moderne Evolutionstheorie bekannt zu machen. Da sich der bekannte Naturforscher, der z. B. noch vor einigen Jahren in der Kinder-Fernsehserie “The Simpsons” einen Comic-Auftritt hatte, darüber hinaus aktiv gegen die amerikanischen Kreationisten engagiert hat, sollen in diesem Beitrag nicht nur Leben und Werk, sondern auch das öffentliche Wirken dieses großen Evolutionsbiologen umrissen werden.

Stephen J. Gould wurde am 10. September 1941 in New York City geboren. Nach dem Studium der Fächer Geologie und Zoologie erwarb er 1963 am Antioch College sein Diplom (bachelor’s degree) und 1967 an der Columbia University einen naturwissenschaftlichen Doktortitel (Ph.D.). Sein Spezialgebiet war die Paläobiologie und Evolution westindischer Landschnecken. Im Jahr 1967 trat er eine Position als Assistant Professor für Geologie und Assistant Curator für Wirbellosen-Paläontologie an der Harvard-University an. Er wurde 1971 zum Associate Professor ernannt und erhielt 1973 aufgrund außergewöhnlicher Leistungen Titel und Position eines Full Professors. Nach der Emeritierung seines Kollegen und akademischen Lehrers Ernst Mayr (geb. 1904) wurde S. J. Gould 1982 als dessen Amtsnachfolger zum Alexander Agassiz Professor of Zoology ernannt. In dieser prestigereichen Position arbeitete er bis zu seinem Tod.

Der berühmte Harvard-Professor wurde über 40-Mal mit akademischen Ehrentiteln ausgezeichnet; er wurde 1981 vom Discover Magazine zum “Scientist of the Year” ernannt und erhielt u. a. 1991 den “Golden Trilobite Award for Excellence in Paleontological Writing” von der US-Paleontological Society und 1992 die “Gold Medal for Service to Zoology” von der Linnean Society of London. Im Jahr 1997 erhielt er den “ Distinguished Scientist Award” von der University of California, Los Angeles (Center for the Study of Evolution and the Origin of Life). Er gehörte zu den populärsten und einflussreichsten Akademikern Amerikas. Nach Entschlüsselung des menschlichen Genoms verfasste Gould einen Leitartikel für die New York Times. Nach dem Terrorangriff auf das World Trade Center am 11. September 2001 publizierten amerikanische Tageszeitungen einen Gould-Essay zum Thema “Gut und Böse”. Er veröffentlichte auch Aufsätze zu anderen Themen, wie z. B. über seinen Lieblingssport Baseball. Der Präsident der Harvard-University, L. H. Summers, würdigte den Verstorbenen mit den folgenden Worten: “The Harvard community and the world of science have lost a brilliant scholar whose research helped redefine our notion of who we are and where we came from. He was also a gifted teacher who brought important scientific ideas vividly to life for his students and for the wider public. We will miss him greatly, and we will continue to learn from his work for generations to come”. Der Dekan der Faculty of Arts and Sciences, J. R. Knowles, äußerte sich wie folgt: “Steve Gould was a star in Harvard’s firmament. He was an intellectual and a scholar who inspired our students in lectures and who wrote with a wonderfully engaging lucidity for the wider public”. Ein Zitat seines Harvard-Kollegen R. Lewontin soll die Reihe der persönlichen Würdigungen abschließen: “Steve’s importance was twofold. He was very creative and original in his studies of evolution. He was an expert at taking new discoveries and applying them to an understanding of evolution ... Secondly, he was the best science writer for the public when it came to explaining evolution” (Quelle: Harvard Univ. Gazette News, May 2002).
Gould war zweimal verheiratet und hinterlässt aus erster Ehe zwei erwachsene Kinder.

Das Gesamtwerk von S. J. Gould umfasst mehr als 250 Zeitschriftenartikel und Buchbeiträge, zwei an seine Fachkollegen gerichtete Spezialwerke (Ontogeny and Phylogeny, 1977; The Structure of Evolutionary Theory, 2002) sowie zahlreiche zum Teil preisgekrönte populärwissenschaftliche Sachbücher, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Das Buch The Panda’s Thumb wurde 1981 mit dem “National Book Award” ausgezeichnet; 1982 folgte der “National Book Critics Circle Award” für The Mismeasure of Man. Die Bände Hen’s Teeth and Horse’s Toes und Wounderful Life wurden 1983 bzw. 1990 mit dem “Phi Beta Kappa Book Award in Science” ausgezeichnet. Sein erfolgreichster Sammelband Ever Since Darwin (1973, reprint 1992) erreichte - wie Wounderful Life - Rekordauflagen. Gould bezeichnete sich selbst gelegentlich als eine “Essay-Maschine”. Die meisten seiner Artikel wurden in dem US-Magazin Natural History publiziert, wobei seine Gesammelten Abhandlungen 20 Bände umfassen. Sein Kollege Prof. Ernst Mayr äußerte sich zu dieser außergewöhnlichen Produktivität einmal wie folgt: “Ich kenne keinen anderen Menschen, lebend oder tot, der das geschafft hat”.

Unter seinen zahlreichen Fachbeiträgen zur Paläobiologie der Wirbellosen und der daraus abgeleiteten konzeptionellen Erweiterungen der modernen Synthetischen Evolutionstheorie ist insbesondere die vor 25 Jahren mit Niles Eldredge publizierte “Theory of punctuated equilibrium” hervorzuheben (Paleobiology 3, S.115 - 151, 1977). Diese noch heute kontrovers diskutierte Theorie vom Tempo der Evolution besagt, dass die Phylogenese ausgewählter Taxa nicht graduell, sondern “in Schüben” erfolgt sei, wobei Jahrmillionen weitgehender stammesgeschichtlicher “Stillstände” zwischengeschaltet waren. Die Beschleunigung der Evolution soll u.a. durch Klimaänderungen und extraterrestrische Faktoren verursacht worden sein. In einem viel zitierten Folgeartikel bezeichneten Gould und Eldredge ihr Konzept als “useful extension of evolutionary theory” (Nature 366, S. 223 - 227, 1993). Ungewöhnlich für einen wissenschaftlichen Fachbeitrag, gehen die Autoren hier auch auf die Fehlinterpretation ihrer Theorie durch die US-Kreationisten ein und liefern eine entsprechende (fundierte) Antwort.

An seinem kurz vor seinem Tod erschienenen, 1433 Seiten umfassenden Hauptwerk The Structure of Evolutionary Theory (2002) arbeitete der Autor etwa 20 Jahre lang. Er selbst sah die Chancen, das Werk trotz seiner Krankheit noch zu vollenden als “nahezu null” an. In diesem schwergewichtigen Buch geht er nochmals ausführlich auf seine berühmte oben genannte Theorie ein und verteidigt diese vehement gegen Angriffe von Fachkollegen. Er analysiert insbesondere jene Prozesse, die wir als Makroevolution bezeichnen (Stammesentwicklung oberhalb des Artniveaus, d.h. Entstehung neuer Baupläne, wie z. B. der Übergang Fisch/Amphibium), und kommt zu neuartigen Schlussfolgerungen (z. B. Konzept der Spezies-Selektion). Das Buch besteht zum Großteil aus langen wissenschaftshistorischen Kapiteln und erfüllt somit die Funktion einer umfassenden Geschichte der Evolutionslehre, von Darwin bis heute. Da einige Themenbereiche der modernen Evolutionsbiologie nur beiläufig behandelt werden (z. B. Selektionsprozesse innerhalb von Populationen) und eigenwillige, teilweise egozentrische Ansichten von Gould überbetont sind, wird das große Buch in der Fachwelt kritisch bewertet (s. Nature 416, S. 787 - 788, 2002; Science 296, S. 661 - 663, 2002). Trotz dieser Schwächen sowie einiger kleiner Fehler und Irrtümer wird das Monumentalwerk dem Autor zu einem Ehrenplatz in der Geschichte der modernen Evolutionsforschung verhelfen.

Bereits im Jahr 1981 trat Gould in einer Gerichtsverhandlung als Zeuge gegen die Anhänger der christlich-religiösen Schöpfungslehre politisch in Erscheinung ( Arkansas “monkey” trial; dieser Auftritt ist in seinem 1983 erschienenen Buch Hen’s Teeth and Horse’s Toes nachlesbar). Im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte war er einer der konsequentesten Vorkämpfer für die Verbreitung der auf Darwin und Wallace zurückgehenden modernen Evolutionstheorie. Ähnlich wie Ernst Haeckel (1834 - 1919) im Deutschland des 19. Jahrhunderts provozierte Gould seine intellektuellen Gegner durch entsprechende Bemerkungen. Nachdem sein Ausspruch, er erkenne in manchen Fossilabfolgen keinen “Vektor des Fortschritts,” von Kreationisten missbraucht wurde (Zitat: “Evolutionsforscher wie S. J. Gould bezweifeln Darwins Deszendenztheorie”) ging er konsequent gegen die Kreationisten vor. In seinem populären Klassiker Wounderful Life (1989), in dem er eine weltweit einmalige kambrische Fossil-Lagerstätte (Burgess Shale of Britisch Columbia) beschrieb und analysierte, reproduzierte er eine gegen die Anhänger des Schöpfungsglaubens gerichtete Zeitungskarikatur. Es ist eine “Ahnenreihe” in der Abfolge: Australopithecus africanus - Homo erectus - Kreationist mit dem Schild “Earth is only 10.000 years old” - Neandertaler - moderner Mensch dargestellt. Diese “Verewigung” einer abfälligen Zeichnung, die seine “christlichen Gegner” als Urmenschen stigmatisierte, erregte heftigen Widerstand. Die US-Kreationisten erzielten auch weiterhin vor Gericht bzw. in Lehrplan-Kommissionen Teilerfolge (z. B. 1995 in Alabama; 1999 in Kansas: Der Begriff Makroevolution wurde aus dem Curriculum gestrichen; dieser Beschluss wurde ein Jahr später revidiert).

Im Juni 1999 brachte Gould dann das “Fass zum Überlaufen”. In einem Editorial mit dem Titel “Darwin’s more stately mansion” wird vom Autor beklagt, dass in einer Hochtechnologie-Nation wie den USA nahezu die Hälfte der Bevölkerung die größte Entdeckung der Biologie (Tatsache Evolution) aus ideologisch-religiösen Gründen ablehnt. Weiterhin publizierte der Harvard-Professor in dieser Abhandlung den folgenden Satz: “Evolution is true- and the truth can only make us free” (Science 284, S. 2087, 1999). Dieses Plädoyer für eine evolutionäre Ethik und Weltsicht - ein genealogisches Netzwerk, welches nahezu vier Milliarden Jahre in die Vergangenheit reicht und alle Organismen der Erde miteinander verbindet - provozierte auch liberale Kreationisten. In den folgenden Heften der Zeitschrift Science meldeten sich in Leserbriefen u. a. amerikanische Physiker zu Wort, die in der belebten Natur das göttliche intelligent design erkennen wollen und als Ursache für die Entstehung des Menschen akzeptieren. Es waren sinngemäß die folgenden Bemerkungen niedergeschrieben: Evolution sei nicht empirisch beweisbar; die Theorie basiere ausschließlich auf einigen Experimenten mit künstlich gezüchteten Fruchtfliegen usw. Diese Lesermeinungen haben offenbart, wie tief kreationistisches Gedankengut auch in naturwissenschaftlich gebildeten Kreisen der USA verankert ist.

Die Gegner der Evolutionstheorie sind jedoch nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland auf dem Vormarsch. In unserem Land verbreiten derzeit zwei prominente Kreationisten ihre pseudowissenschaftlichen Ideologien unwidersprochen im Internet (homepage des Max-Planck Instituts für Züchtungsforschung, Abt. Molekulare Genetik, Köln) und in einer Fachzeitschrift für Biologielehrer (Praxis der Naturwissenschaften). Ein “evolutionskritisches” Schulbuch erlebte seit 1986 fünf Auflagen und dient der Verbreitung des neo-kreationistischen “Schöpfungsmodells” sowie einer von der biblischen Offenbarung inspirierten “Grundtypen-Biologie”. Am Wissenschaftszentrum Weihenstephan der TU München lehrt ein deutscher Biologieprofessor, der in seiner Freizeit als Vorsitzender einer einflussreichen Kreationisten-Vereinigung tätig ist und evolutionskritische (bzw. “schöpfungstheoretische”) Beiträge publiziert (s. biologenheute 1/02, S. 29).

Der verstorbene Evolutionsforscher S. J. Gould hat neben seiner wissenschaftlichen und schriftstellerischen Tätigkeit zeitlebens dafür gekämpft, dass die Evolutionstheorie als Lehrinhalt an amerikanischen Schulen erhalten bleibt. Er wurde wegen dieser Aktivitäten von seinen Kollegen deshalb auch als “Bulldogge der Evolutionsbiologie” bezeichnet. Die deutschen Biologen sollten sich heute ein Beispiel an S. J. Gould nehmen, damit sich nicht morgen in unseren Schulen amerikanische Verhältnisse einschleichen, die wir dann bitterlich beklagen.

Ulrich Kutschera, Universität Kassel
E-Kail: kut@hrz.uni-kassel.de

Im Juni 2002 ist im S. Fischer-Verlag von S.J. Gould erschienen:
“Ein Dinosaurier im Heuhaufen - Streifzüge durch die Naturgeschichte”, 480 S., ISBN 3-596 -15510-x, 12,90 EUR.