Rezension von Martin Neukamm

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Rezension:

Kutschera U. (2001): Evolutionsbiologie. Eine allgemeine Einführung

Parey Buchverlag. Berlin. 284 S., 104 Abb., Preis: DM 58,58

                                                                                                             

Es gibt kaum eine Kontroverse, die so emotional ausgefochten wird wie die Evolutionsdebatte, ein Umstand, der als Indiz dafür gelten kann, daß unser über die Jahrtausende gewachsenes anthropozentrisches Eigenbild in einem finalen Akt der Selbstkränkung durch die Erkenntnisse Darwins vollends zugrabe getragen wurde. Angesichts dessen kann es kaum überraschen, daß dieser Situation durch Flucht in übernatürliche Entstehungstheorien begegnet wird, um unserer irdischen Existenz eine kosmische Geborgenheit zu verleihen. Diese Tendenz manifestiert sich darin, daß man gelegentlich selbst bei Wissenschaftlern auf ein eklatantes Mißverhältnis zwischen Fachkompetenz und kompetenter Evolutionskritik stößt. So soll etwa der renommierte Umweltforscher Jakob v. Uexküll die Evolutionstheorie einst als "kindische Spekulation" und "alberne Zufallstheorie" bezeichnet haben, womit wieder der emotive Habitus ins Spiel kommt. Dabei konzentriert sich die Kritik meist auf den Gebrauch fragwürdiger Argumente und die verzerrte Wiedergabe evolutionsbiologischer Postulate (Uexkülls Titulierung als "Zufallstheorie" gehört zu einer solchen). Dieser Strategie, die sich in Gestalt des Antievolutionismus Wissenschaftlichkeit auf ihre Fahnen schreibt, wird man nur mit biologischer und wissenschaftstheoretischer Aufklärung adäquat begegnen können, und genau dieses Ziel verfolgt der Autor, der an der Universität Kassel den Lehrstuhl für Pflanzenphysiologie innehat.

Zunächst ist festzustellen, daß es ihm gelungen ist, evolutionsbiologische Grundlagen in kompakter und anschaulicher Form darzulegen, wobei wichtige theoretische Konzepte auch im Hinblick auf die Evolutions-Kontroverse zur Sprache kommen. Damit vermittelt das Buch nicht nur Nichtbiologen, Schülern und Biologiestudenten ein fundiertes Grundlagenwissen, sondern es leistet darüber hinaus eine wertvolle Argumentationshilfe für alle, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Argumente des Antievolutionismus kritisch zu durchleuchten.

An dieser Stelle ein Wort zum Inhalt: Nach einer allgemeinen Einführung wird die Geschichte der Evolutionslehre beschrieben, womit der Autor zur Besprechung der Grundlagen der Synthetischen Evolutionstheorie überleitet. In Kapitel 4 folgt ein Exkurs über die Paläobiologie sowie darauffolgend eine Präsentation der aktuellen Theorien zur Entstehung des Lebens. Anschließend werden Einblicke in die Zellevolution gewährt, während sich die Kapitel 7 und 8 vorrangig mit den Methoden der Rekonstruktion der Phylogenese mithilfe molekularer Uhren, Beobachtung und Vergleich beschäftigen. Im neunten Kapitel werden neueste Ergebnisse aus der experimentellen Evolutionsforschung vorgestellt, so daß sich die letzten drei Abschnitte im Lichte des Vorangegangenen schließlich ganz der antievolutionistischen Kritik widmen können.

Aus evolutionsbiologischer Sicht fallen die Ausführungen über die Paläobiologie besonders ins Gewicht, weil sie unter Einbeziehung neuester Forschungsergebnisse und fossiler Funde eine sehr detaillierte Beschreibung der evolutiven Etappen in der Erdgeschichte liefern. Desweiteren gehört das Kapitel über die Zellevolution zu den gelungensten des Buches, findet man doch kaum Lehrbücher, in denen die Thematik vergleichbar kompetent besprochen wird. Mit der ausführlichen Diskussion der Endosymbiontenhypothese, der Auflistung der Belegsituation sowie der Rekonstruktion des zeitlichen Verlaufs der Zellevolution geht die Materie weit über den Anspruch eines einführenden Lehrbuches hinaus - ein Umstand, dem auch im Kapitel über die Rekonstruktion der Phylogenese durch Beobachtung und Vergleich Rechnung getragen wird.

In allen Abschnitten des Buches werden die Methoden und Belege der Evolutionsforschung dargelegt, die man insbesondere in der Stammbaumanalyse mithilfe molekularer Uhren sowie im Vergleich mit geochronologisch datierten Fossilienreihen glänzend herausgearbeitet findet. Dies macht den Umstand, daß auf die Beschreibung der Populationsgenetik sowie der grundlegenden Methoden der modernen Kladistik verzichtet wurde, mehr als wett. Zu kurz gekommen sind in dem Buch meines Erachtens jedoch die klassischen Evolutionsbelege - der Nachweis tiefgreifender Homologien auf morphologischer wie molekularer Ebene, Atavismen und rudimentäre Organe finden dort leider keine Erwähnung. Daneben sollten in der Evolutionsdebatte auch die genetischen Kausalfaktoren, wie Chromosomen- und Genmutationen eine angemessene Würdigung erfahren, findet man doch in dem Nachweis repetitiver sowie homologer Gene zentrale Erwartungen der Evolutionstheorie erfüllt. Der Autor führt jedoch am Beispiel der Evolution der Maispflanze unter Rekurs auf molekulargenetische Belege sehr schön aus, daß mitunter wenige Mutationen an Regulatoren genügen, um neue Typen zu erhalten, was ja auch systemtheoretisch gezeigt werden kann.

Inwieweit ist es nun gelungen, die Argumente des Antievolutionismus zu entkräften? Zunächst kann man einmal resümmieren, daß wichtige Haupteinwände gegen Evolution aufgegriffen und diskutierten werden. Der unausrottbare Grundirrtum, der mit einer Entropieabnahme verbundene Informationsaufbau verstoße gegen den 2. Hauptsatz der Thermodynamik, wird ebenso gründlich ausgeräumt wie am Beispiel der Gametenbildung das Wahrscheinlichkeitsargument, das Antievolutionisten nicht verstanden haben, weil sich praktisch jedes Ereignis a posteriori beliebig unwahrscheinlich machen läßt. Zu ergänzen wäre von meiner Seite, daß die Erkenntnisse der modernen Chaosforschung die gelegentliche Entstehung von Innovationen durch Modifikation und Kumulation selbst selektionsneutraler oder nichtcodierender Gensequenzen in Gestalt synergetischer Sprünge evident machen. Angesichts der astronomischen Zahl an Permutationsmöglichkeiten von Milliarden (nichtcodierenden) Nucleotidbasen folgt auch immer wieder die Realisation sehr unwahrscheinlicher Genkombinationen. Schließlich wird im Buch darauf hingewiesen, daß die im Antievolutionismus stark in die Kritik geratene Biogenetische Grundregel Haeckels auch heute noch Gültigkeit besitzt, sofern man jene Einschränkungen beachtet, die Naef in seinem "Gesetz der konservativen Vorstadien" dargelegt hat. Der Fälschungsvorwurf, der an Haeckel gerichtet wird, wird ebenso als nicht haltbar zurückgewiesen, weil man seine Embryonentafel als idealisierte Darstellung zu verstehen hat.

Nun sei aber hervorgehoben, daß sich Kreationismuskritik nicht auf die Rekapitulation biologischer Sachverhalte beschränken kann. Um die Evolutionstheorie a priori aus der Wissenschaft heraushalten zu können, arbeiten Kreationisten mit den "Trick", Wissenschaft mit Empirismus gleichzusetzen, weil er sich nur mit dem unmittelbar Beobachtbaren beschäftigt. Demnach dürften sich Wissenschaften jedoch nicht nur nicht mit dem Historischen, sondern auch nicht mit transempirischen Objekten, wie etwa Elementarteilchen oder Genen beschäftigen. Die Wissenschaftlichkeit in der Evolutionstheorie hebt sich gegenüber dem Kreationismus auch nicht (wie es im Buch anklingt) dadurch ab, daß man "gesicherte" Beweise für das Stattfinden von Evolution vorbringen könnte, sondern darin, daß sie ein Hypothesensystem verkörpert, aus dem prüfbare, mittlerweile vielfach bestätigte Folgerungen deduzierbar sind. Damit erweist sich das induktivistische Postulat von der "Theoriefreiheit" von Daten als fehlerhaft: Beobachtungen sind nie objektiv, sondern werden immer im Rahmen spekulativer Theorien interpretiert, wobei im Erfolgsfalle die zugrundegelegte Theorie eine hypothetico-deduktive Bestätigung erfährt. Die Schöpfungstheorie ist jedoch nicht prüfbar, weil es ihr supernaturalistischer Bezug nicht erlaubt, eindeutige Folgerungen zu deduzieren, die man logisch falsifizieren könnte. Es könnten selbst höchst gegensätzliche Beobachtungen im Rahmen der Schöpfungstheorie gedeutet werden. Kurzum: Die Datensituation kann aussehen wie sie will, nichts widerspricht Schöpfung. Derartige Gesichtspunkte kommen in Kutscheras Buch leider zu kurz. Statt dessen scheint es sich ungewollt zu sehr am empiristischen Positivismus zu orientieren, was Kreationisten die Möglichkeit eröffnet, ihren Schöpfungsmythos gleichberechtigt neben die Evolutionstheorie zu stellen.

Zusammenfassend ist jedoch hervorzuheben, daß die äußerst gelungene Darlegung evolutionsbiologischer und kreationistischer Konzepte den Kauf des Buches für alle, die sich mit Evolution und Kreationismus auseinandersetzen wollen, zu einer lohnenden Investition machen.

Martin Neukamm, 23.10.2001

 
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E-Mail an Thomas Waschke an Thomas Waschke Stand: 22. Januar 2002